Freitag, 7. Dezember 2012

Die wahre Geschichte einer einsam gemachten Frau

Ilse Sixt, Oberpframmern (im oberbayerischen Landkreis Ebersberg)
Der Kummer, der nicht spricht,
nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.
William Shakespeare

Diese Begebenheit, die ich jetzt erzähle, ist 21 Jahre her und ich habe das erste Mal darüber geschrieben. Nur eine wahre Geschichte, die sich aber x-mal vervielfältigen lässt. Sie soll nicht dazu dienen, die Priester an den Pranger zu stellen, sondern der Institution katholische Kirche, die die Schöpfungsordnung Gottes wissentlich und hartnäckig ignoriert, den Spiegel vorzuhalten!

Nach längerem Aufenthalt vor einigen Jahren in einer Klinik in Regensburg, als es mir schon besser ging, bemerkte ich dort auf den Bänken im Garten immer wieder eine sehr einsame, traurige Frau ganz allein sitzen. Jeder ging an ihr vorbei. Nach längerer Beobachtung nahm ich mir einen Tag vor meiner Entlassung den Mut, mich ihr vorsichtig und liebevoll zu nähern. In mitfühlender Haltung versuchte ich, mit ihr in Kontakt zu kommen.

Als ich sie fragte, wie lange sie schon hier in der Klinik sei, blickte sie mich vorsichtig und prüfend an und sagte: „Morgen ist mein letzter Tag“. Ich meinte darauf „ach, wie schön, dann haben wir beide etwas gemeinsam, denn ich werde morgen auch entlassen.“ Dann schaute sie mich mit einem merkwürdigen Blick an und sagte etwas erleichtert: „Gut, dass auch sie morgen entlassen werden, dadurch kann ich mich endlich mal jemandem anvertrauen.“ Und plötzlich fing sie zitternd an, ihre Geschichte, ihren Leidensweg, zu erzählen. Dieser Weg, den sie gehen musste brachte sie mit schweren Depressionen vor zwei Wochen in die Klinik.

„Nun sitze ich hier und erzähle ihnen mein Schweigen über mein Leben, das ich ja eigentlich den Ärzten erzählen hätte sollen, aber mein Mund und mein Herz wurden ab meinem 24. Lebensjahr total zum Schweigen verurteilt.“ Schweren Herzens teilte sie mir alles, was mit ihr geschah, sogar Einzelheiten, mit. „Wissen sie, mich würde kein Arzt verstehen, auch wenn ich den Grund meines Schweigens erzählen würde. Das würde mir noch mehr Schwierigkeiten bereiten.“ Sie schaute mich noch mal mit prüfendem Blick an und sagte: „Das erste Mal und es wird zugleich das letzte Mal sein, dass ich mein Schweigen breche und mein verschlossenes Herz jetzt öffne.

Als junges Mädchen von 24 Jahren war ich in einer Jugendgruppe. Der katholische Priester, der öfter teilnehmen musste, lud mich auf einmal zu einem kleinen Spaziergang um den Stadtweiher herum ein. „Aber Herr Pfarrer, das ist doch wohl nicht ihr Ernst?“ – „Doch“, sagte er mit einem eigenartigen, gütigen Gesichtsausdruck. Ich erinnerte ihn an sein Gelübde. Da meinte er etwas lächelnd: „Aber ein Spaziergang hat doch nichts mit meinem Gelübde zu tun.“ Somit sagte ich zu, ohne einen Hintergedanken zu hegen. Als die Spaziergänge des Öfteren stattfanden, machte er mir häufig Komplimente. Als ich merkte,
dass dies zu weit ging, sagte ich ihm diese Spaziergänge natürlich ab. Aber er suchte anderweitig immer wieder meine Nähe, wobei er mir klar machte, dass er sich auch als Priester verlieben dürfe. Nur eine Verheiratung würde nicht genehmigt.

‚Ich bin doch auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut und vor Gott habe ich das Recht, eine Frau zu lieben, denn wir sind Menschen und für die Liebe gemacht.’ Erst zögerte ich noch eine Zeit lang und ließ mich dann doch auf eine Liebschaft ein. Er legte sehr viel Wert darauf, dass es wirklich niemand erfahren durfte, weil die Menschen in der Welt dieses Geheimnis nicht verstehen und auch niemals akzeptieren würden. Somit schwor ich, mich in der Öffentlichkeit so zu verhalten, dass kein Mensch einen Verdacht schöpfen könnte!

Natürlich ging dies nicht lange gut, denn eines Tages bemerkte ich, dass ich ein Kind von ihm unter meinem Herzen trug. Als ich ihm diese Botschaft mitteilte, brach er abrupt das Verhältnis mit mir ab und sagte mir mit eiskaltem Verhalten und grausamer Stimme: ‚Ich muss die Beziehung mit dir aus meinem Herzen streichen, so als hätte es sie nie in meinem Leben gegeben.’ Dies war wie ein Schlag ins Gesicht. ‚Und was die Schwangerschaft oder das eines Tages geborene Kind angeht, gilt dasselbe. Vergiss unsere Beziehung! Begrabe sie! Ich werde nichts mehr wahrnehmen! Versuche niemals, mich zu erreichen! In keinster Weise, egal was aus dir oder deinem Kind wird. Wenn du gefragt wirst, dies gilt auch bei Behörden, sage immer, dass du den Vater deines Kindes nicht kennst. Auch dein Kind darf es nie erfahren, wer sein Vater ist! Ich warne dich! Streiche mich total aus deinem Gedächtnis. Egal was geschieht, verhalte dich so, als wäre ich nicht mehr auf dieser Erde’.

So kam eine erdrückende, schwere Zeit auf mich zu. Statt Freude für mein heranwachsendes Kind in meinem Leib, empfand ich nur Traurigkeit. Diese seelische Last schien mich beinahe zu erdrücken. Vor allem, wenn ich ihm in der Pfarrei begegnen musste und sein eiskaltes Verhalten mir gegenüber wahrnahm. In dieser Begegnung fühlte ich mich wie ein Wurm, der am Boden mit Füssen zerdrückt wird. Als dieser Zustand für mich immer unerträglicher wurde, zog ich in eine andere Stadt, weit weg von ihm, um mich ganz auf das wachsende Kind in mir zu konzentrieren.

Als ich die ersten Lebenszeichen, der Bewegung meines Kindes, das unter meinem Herzen lag, spürbar vernehmen konnte, stellte sich ein wenig Freude und Hoffnung ein, dass ich doch alles schaffen würde, vor allem, wenn das Kind einmal geboren sein würde. Diese Hoffnung half mir, durchzuhalten. Tatsächlich, als das Kind geboren war, konnte ich diesen Verlust, diese abgebrochene Liebschaft, durch mein Kind überwinden. Nun lebte ich mit einem Geheimnis in meinem Herzen.

Dies ging viele Jahre gut, bis mein Sohn zur Bundeswehr musste. Da fragte er mich ganz anders als zuvor nach seinem Vater. Er schrie mich an: ‚Ich habe ein Recht darauf, meinen leiblichen Vater kennen zu lernen! Nun sage es mir doch endlich!’ Ich erschrak vor ihm, als ich erkannte, wie ernst es ihm war, seinen Vater kennen zu lernen oder wenigstens seinen Namen zu erfahren. Er schrie und tobte weiter. ‚Willst du, oder kannst du nicht wenigstens mir endlich den Namen meines Vaters sagen?’ Als ich mich an meinen Schwur und mein Versprechen erinnerte, sagte ich ein striktes: ‚Nein, mein Sohn! Ich kenne den Namen deines Vaters nicht.’

Da bekam ich erneut, wie damals bei seinem Vater, Worte ins Gesicht geschleudert, die mein Herz zerbrachen. ‚Dann will ich dich nicht mehr als meine Mutter bezeichnen, denn nur eine Hure weiß den Namen des Vaters seines Kindes nicht.’ Dies war der Totschlag für mein Herz! Tatsächlich verschwand mein Sohn auf nimmer Wiedersehen.

Mittlerweile bin ich 67 Jahre alt geworden und sitze hier mit einer schweren Depression. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen alles so erzählt habe. Eigentlich hätte ich es niemandem erzählen dürfen.“ Darauf sagte ich zu ihr: „Aber gute Frau, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen – ich fühle mit Ihnen.“ Sie sagte nur: danke! Ich darauf: „Ich habe Sie gut verstanden, worum es wirklich bei Ihrem Schweigen all’ die Jahre ging. Sie wollten keinen Schwur brechen.“ – Darauf sie: „Ja, gut, dass sie mich verstanden und mir zugehört haben, denn morgen ist ja mein letzter Tag, darum habe ich mich Ihnen anvertraut.“

Als ich nach vier Wochen zur Nachuntersuchung musste, fragte ich nach dem Wohnort dieser Frau, denn ich wollte sie besuchen. Da schaute mich die Stationsschwester mit großen Augen an und sagte: „Eigentlich dürfen wir keine Adressen weitergeben. Diese Frau aber können sie nicht mehr besuchen, denn sie nahm sich nach der Entlassung aus der Klinik das Leben.“
 

Aus: „Gedanken zu Glaube und Zeit“ von Dr. Herbert Kohlmaier, Nr. 66 – 23.11.2012

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