Freitag, 20. September 2013

Schwule, Frauen, Abtreibung: Der Papst rüttelt die Kirche auf

Franziskus, der Reformer: Mit einem sensationellen Interview sprengt der Papst die Verkrustungen der Kirche. Seine für den Vatikan beispiellos progressiven Gedanken zur Sexualmoral sind eine Kampfansage an die Fundamentalisten - und rühren abtrünnige Katholiken zu Tränen.

Der Papst mag's asketisch. "Einfach, ja karg", so beschreibt der Besucher das kleine Zimmer, in dem Franziskus im vatikanischen Gästehaus lebt. Kaum Bücher, kaum Papier und nur ganz wenige Kunstobjekte: "Eine Ikone des heiligen Franziskus, eine Statue von Unserer Lieben Frau von Luján, der Schutzpatronin Argentiniens, eine Statue des schlafenden heiligen Josef."

Der Besucher, der das vermerkt, ist Antonio Spadaro, Chefredakteur der italienischen Jesuiten-Zeitschrift "La Civiltà Cattolica". Dreimal hat ihn Papst Franziskus, selbst ein Jesuit, in der Casa Santa Marta empfangen, zu sehr persönlichen Gesprächen, die nun das erste große Interview des Pontifikats bilden. Das Ergebnis wurde diese Woche in 16 Jesuiten-Magazinen weltweit veröffentlicht, darunter in den Münchner "Stimmen der Zeit". Und das Ergebnis ist eine Sensation.

Zwar kippt Franziskus keine Dogmen. Doch offenbart sich der Ex-Erzbischof von Buenos Aires - wie es viele schon länger vermuten - als Reformer, wenn nicht gar als Revolutionär: Er hat keine Scheu, seine Kirche aus ihrem Selbstverständnis als moralische "Zensurstelle" aufzuschrecken und Kritikern wie Abtrünnigen so neue Hoffnung zu geben.

Offene Kampfansage an die alte Garde des Vatikans
Schwule, Frauen, Abtreibung: Offen und einfühlsam spricht er über Themen, die unter seinem Vorgänger Benedikt XVI. tabu waren oder mit fundamentalistischem Eifer totgepredigt wurden. Manche Gedanken - etwa über gleichgeschlechtliche Liebe - hat er schon mal angetestet, doch noch nie so ausführlich. Vor allem in Latein- und Südamerika, den Bastionen der Konservativen, dürfte das jetzt mit Donnerhall einschlagen.
Seit Monaten lehnt sich Franziskus gegen die alte Garde des Vatikans auf, mit Worten, Gesten, Auftritten. Doch dies nun ist eine offene Kampfansage - ein dramatischer Wendepunkt für eine schrumpfende, demoralisierte, um ihren Platz im 21. Jahrhundert ringende Kirche.
  • Franziskus über Homosexuelle: "In Buenos Aires habe ich Briefe von homosexuellen Personen erhalten, die 'soziale Wunden' sind, denn sie fühlten sich immer von der Kirche verurteilt. Aber das will die Kirche nicht (…). Wenn eine homosexuelle Person guten Willen hat und Gott sucht, dann bin ich keiner, der sie verurteilt (…). Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: 'Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er die Tatsache mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?'"
  • Franziskus über Frauen:
    "Die Frauen stellen tiefe Fragen, denen wir uns stellen müssen. Die Kirche kann nicht sie selbst sein ohne Frauen und deren Rolle. Die Frau ist für die Kirche unabdingbar. Maria - eine Frau - ist wichtiger als die Bischöfe (…). Man muss daher die Vorstellung der Frau in der Kirche vertiefen. Man muss noch mehr über eine gründliche Theologie der Frau arbeiten (…). Der weibliche Genius ist nötig an den Stellen, wo wichtige Entscheidungen getroffen werden."
  • Franziskus über die Kirche:
    "Diese Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller - keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann. Wir dürfen die Universalkirche nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren (…). Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen (…). Es ist eindrucksvoll, die Anklagen wegen Mangel an Rechtgläubigkeit, die in Rom eintreffen, zu sehen."
Die ersten Reaktionen reichen von tiefer Rührung bis zu kühler Indignation. "Eine Offenbarung", schrieb der prominente US-Blogger Andrew Sullivan, ein schwuler Katholik, der offen mit seinem Glauben ringt und die Runde durch die Talkshows machte, den Tränen nahe. "Balsam für so viele Seelen."
"Das Interview hat mein Leben verändert", zitierte James Martin, ein leitender Redakteur beim Jesuiten-Magazin "America", das das Gespräch in den USA abdruckte, einen Anrufer. "Nie war ich stolzer, ein Jesuit zu sein, oder stolzer auf meine Kirche", erklärte Thomas Reese im "National Catholic Reporter".
"Ich bin entzückt", sagte selbst Bill Donohue, der Präsident der konservativen Catholic League, auf CNN - wiewohl spürbar spitz. Denn auch unter Papst Franziskus würde sich nichts wirklich tun: "Er wird die Lehren der Kirche zur Schwulenehe nicht ändern, er wird die Lehren der Kirche zur Abtreibung nicht ändern."
Ähnlich machte sich der Autor Damon Linker im "New Republic" über die "glückselige Reaktion" mancher lustig: "So sehr diese Äußerungen eine Wende vom rhetorischen Stil der Päpste Johannes Paul II. und Benedict XVI. signalisieren, müssen progressive Katholiken verstehen, dass der Wandel nur eine Frage der Worte ist und das wohl auch bleiben wird."

"Wer ist Jorge Mario Bergoglio?"
Schon direkt nach Benedikts Abdankung im März, doch noch vor Franziskus' Wahl hatten sich viele einen "katholischen Frühling" herbeigesehnt: Die Transformation einer Kirche, die sich von Missbrauchsskandalen diskreditiert, verräucherten Ritualen gelähmt und gesellschaftlichem wie technologischem Wandel zurückgelassen findet. Der Vatikan, forderte Kirchenkritiker Michael D'Antonio, müsse den Weg "in die moderne Welt" finden - oder seine "moralische Autorität" einbüßen.
D'Antonio stellte sich einen "bescheidenen" Pontifex vor - "einen echt menschlichen Papst". Zwei Tage später stieg weißer Rauch auf, und aus Jorge Mario Bergoglio wurde Franziskus.
"Mit Papst Franziskus zu reden, ist so, wie wenn man einem Vulkanstrom von Ideen zuhört, die sich miteinander verknüpfen", schreibt Spadaro. "Selbst wenn ich mir Notizen mache, habe ich das unangenehme Gefühl, einen sprudelnden Dialog zu unterbrechen."
Solch einen Dialog haben die Katholiken seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt, geschweige denn geführt, führen dürfen. Das beginnt schon mit Spadaros erster, freimütiger Frage: "Wer ist Jorge Mario Bergoglio?"

Ein Papst, der umdenkt
Franziskus' ebenso freimütige Antwort: "Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition." Er gibt "schwere Fehler" zu, so habe er sich früher mit seiner "autoritären und schnellen Art" die Beschuldigung eingehandelt, "ultrakonservativ zu sein". Dabei sei er alles andere als das. Wann gibt es das? Ein Papst, der umdenkt.
Auch spricht er darüber, dass er beim Zahnarzt betet und das traditionelle Papstapartment im Apostolischen Palast gar nicht mag. Dafür liebe er Fellinis "La Strada", außerdem Caravaggio und Chagall, Dostojewski und Hölderlin. Das ist mehr als Imagepflege. Schon in den letzten Monaten offenbarte sich Franziskus, mit seiner Betonung von Armut und reiner Liebe, als Gegenpol zur theologischen Hierarchie: offen, demütig, Verkrustungen aufbrechend. Manchen stößt das sauer auf, etwa dem US-Bischof Thomas Tobin: Der zeigte sich erst diese Woche "ein bisschen enttäuscht", dass Franziskus das "Übel der Abtreibung" ignoriere.
"Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit den Verhütungsmethoden", gibt Papst Franziskus nun zurück. "Das geht nicht."

Quelle: Spiegel online 


Das große Papstinterview: eine Zusammenfassung
auf Radio Vatikan >>


Papst: Kirche verurteilt keine Homosexuellen
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Markus Roentgen
"Papst Franziskus im Interview"
Von Gott angeschaut – ich bin ein Sünder in Liebe und Erbarmen (die Berufung des Levi am Zoll). Der Theologe Markus Roentgen mit Lesehilfen und spirituellen Vertiefungen zum "La Civiltà Cattolica"-Interview von Papst Franziskus.
Domradio.de >>

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Was man da liest,ist wie Balsam auf die Seele.
Der hl. Geist scheint im Vatikan gelandet zu sein.GOTT SEI DANK!!!